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Marie Jaëll jung
Marie Jaëll in jungen Jahren
Marie Jaëll mit etwa 30
Marie Jaëll mit etwa 30 Jahren

Musik und Physiologie nach Marie Jaëll (1846 – 1925)

Die Anwendung und Realisierung im Unterricht


„Sobald Liszt zu spielen begonnen hatte, schienen sich alle meine gehörsmässigen Möglichkeiten zu transformieren. Während ich diese Musik hörte, so sehr verschieden von der, welche ich bis anhin gehört hatte, fühlte ich meine Gedanken zirkulieren, als ob sie - unabhängig von meinem Willen - die Fähigkeit erlangt hätten, Wege zu beschreiten, die ich nicht kannte.“ ( Zitat von Marie Jaëll ).

Das aussergewöhnliche, unglaubliche Spiel von Franz Liszt war Objekt der vierzig-jährigen Recherchen von Marie Jaëll, Schülerin und später engste Vertraute von dem grossen Meister. Sie und ihr Mann Alfred Jaëll waren beide selber grosse und international berühmte Pianisten.
Nach dem Tod von Liszt beschäftigte sich Marie Jaëll ganz mit der Analyse des musikalischen Anschlags und, um ihre Arbeit auch wissenschaftlich zu begründen, studierte sie später noch Medizin.
„ Ich suche die richtigen Bewegungen und durch sie habe ich die Harmonie des Anschlags gefunden, das musikalische Gedächtnis, das Perfektionieren des Gehörs, alle Möglichkeiten, welche in jedem von uns zu schlummern scheinen. Die auf genauer Zeitmessung beruhenden Experimente haben die Tatsache begründet, dass die automatisierten Bewegungen Verspätung aufweisen, während andererseits die gedachte Bewegung, die richtige Bewegung, schneller wird und sich nach und nach perfektioniert.“
Marie Jaëll recherchierte ohne Unterbruch. Zehn von ihr verfasste Bücher zeugen von ihrer grossen Arbeit.

Nach meinem 20-jährigen Studium dieser Philosophie nach Jaëll, welches ich unter anderem während drei Jahren bei einem Musikprofessor der Sorbonne in Paris und während zwei Sommern in Georgien absolvierte, hat sich mein musikalischer Weg total verändert. Musiker von Tonhalle und Opernhaus, mit denen ich oft musiziere, bestätigten mir, dass sich mein Spiel radikal verändert habe.
So begeistert bin ich von diesem ganzheitlichen Musizieren, dass ich auch alle meine Schüler in ihrer Kreativität des musikalischen Ausdrucks in jeder Hinsicht fördere.
Gibt es überhaupt eine Technik ? Ich wage zu behaupten: „Nein“. Ich verstehe absolut nicht, warum es nötig sein soll, mechanisch immer schneller spielen zu lernen, z. B. mit sinnlosen Fingerübungen, handelt es sich doch darum, gehörsmässig schnelle, intensive, präzise Bilder zu haben. Das geistige Gehör geht voran, und der Finger folgt! Die Verbindungen der geistigen Bilder verwandeln sich in Fingerbewegungen.
Erst wenn sich die innere Energie, das innere Gefühl direkt in die geistig vorbereiteten Finger überträgt, ist ein Ausdruck der inneren Kreativität überhaupt möglich.
Schon Johann Sebastian Bach hat seine Schüler genau nach diesen Prinzipien gelehrt (s. Forkel, 1802):
„Die fünf Finger müssen auf die in einer Fläche nebeneinander liegenden Tasten so passen, das kein einziger Finger bey vorkommenden Fällen erst näher herbey gezogen werden muss, sondern dass jeder über der Taste, die er niederdrücken soll, schon schwebt. Damit ist nun verbunden, das kein Finger auf seinen Tasten fallen, oder (wie es ebenfalls oft geschieht) geworfen, sondern nur mit meinem gewissen Gefühl der innern Kraft und Herrschaft über die Bewegung getragen werden darf. Dies hat noch den überaus grossen Vorteil, dass alle Verschwendung von Kraft durch unnütze Anstrengung und durch Zwang in den Bewegungen vermieden wird.“
Es ist der umgekehrte Weg des geläufigen Unterrichts, wo rein mechanische Bewegungen erzeugt werden. Normalerweise bewegt sich der Finger viel zu früh, rein mechanisch und nur über den Intellekt. Die Seele hat null Chance. Wie sagt doch Marie Jaëll: „Den besten, präzisen, von mir und Dr. Feré ( Chefarzt und Physiologe) gemessenen Anschlag hatte kein Konzertpianist, sondern ein debiles Kind, welches direkt über sein Gefühl spielte.“
 
Nun zur grossen Frage: Wie bringe ich meinen Schülern diese Erkenntnisse bei?
Das grösste Erlebnis in dieser Hinsicht war für mich, zu realisieren, dass schon die kleinsten Schüler sehr gut darauf ansprechen. Mit allen Schülern arbeite ich an der inneren, kreativen Vorstellung, am inneren Gehör und an der inneren Bewegung. Eine Musik kommt da raus, es ist oft kaum zu glauben. Die Schüler merken Veränderungen im Spiel sofort und gehen schon sehr bewusst damit um. Was ich so wunderbar finde:
Sowohl meine hochbegabten Schüler, sowie auch meine normal begabten Schüler spielen mit grosser Begeisterung, machen sehr grosse Fortschritte und spielen mit so tiefem Ausdruck, dass mir manchmal Tränen kommen, so berührt bin ich.
Natürlich braucht es viel Disziplin, taktweise zu üben, denn die Vorstellung reicht am Anfang nicht weiter. Natürlich braucht es viel Geduld, auch meinerseits, sehr langsam zu üben, der Seele wirklich Zeit zu lassen, die inneren Empfindungen erst in Ruhe zu spüren.
Ich denke, dass dies der Grund ist, warum die grössten Pianisten sehr langsam üben.
Ich hatte mehrmals das Glück, dies selber zu konstatieren. Und wie sagt doch Gieseking: „Wer dreimal langsamer übt, lernt dreimal schneller“!
Die Schüler spielen mit ihrer ganzen Kreativität. Schon die kleinste Melodie kann man doch schon wie ein grosser Künstler spielen. Man muss nicht zehn Jahre warten, um vielleicht einmal ein Künstler zu werden!
Meine Schüler zählen niemals. Den Rhythmus lasse ich sie spüren vom Grossen ins Kleine und nicht umgekehrt. Das heisst: Im Schwung des ganzen Taktes sind die kleinen Werte enthalten. Den Schwung des Taktes muss ich kreativ und niemals metronomisch (tot) gestalten. Ich arbeite mit dem von mir erfundenen rhythmischen Rad, welches nach meinen Seminarien kopiert wurde und jetzt an der Musikhochschule gelehrt wird.
Im Unterricht entwickle ich mit gezielten Übungen das Gehör der Schüler. Ich versuche, ihnen gehörte und erlebte Theorie beizubringen, auch frei erfundene Melodien, Begleitungen und kleine, freie Kadenzen, sowie frei erfundene Choralvorspiele (Orgelschüler) baue ich in meinen Unterricht ein. Unerlässlich sind für mich auch die Trockenübungen nach Marie Jaëll für die Individualisierung der Finger, um dahin zu kommen, den nötigen Einfluss der Aktivität eines Fingers – ausgeübt auf die eines andern Fingers – wahrnehmen zu können.
(Bach – Forkel: „Wenn der eine Finger zu tun hat, bleibt der andere in seiner ruhigen Lage. Noch weniger nehmen die übrigen Teile seines Körpers Anteil an seinem Spielen, wie es bei vielen geschieht“). Die nicht getrennten, nicht individualisierten Finger produzieren unbewusste und schlechte Verbindungen. Es ist immer die Individualität, welche zur Einheit führt, so wie jeder Finger entwickelt werden muss in seiner Individualität, um mit den andern Fingern eine Einheit zu bilden. Meine Schüler machen diese Übungen gerne und sind stolz, wenn sie jeden Finger individuell bewegen können.
Ich verlange viel von meinen Schülern, aber ich tue auch etwas für ihr Gemüt, nicht nur in der Musik, sondern wir machen auch einmal einen Ausflug, Workshops mit feinem Znüni, oder Konzerte mit anschliessend gemütlichem Beisammensein mit Eltern und Freunden. Ich finde in der Pädagogik extrem wichtig, nicht nur zu fordern, sondern hin und wieder auch eine Belohnung zu geben.
Viele meiner Schüler gewinnen jedes Jahr Preise an Wettbewerben und werden sehr gelobt. Sie sind motiviert, spielen mit Freude und grosser Kreativität.
Ich liebe alle meine Schüler und gebe ihnen mit grosser Freude und all meinen Kenntnissen Unterricht. Es ist für mich eine grosse Verantwortung, meine Schüler mit bestem Wissen und Gewissen zu fördern. Eigentlich lehre ich sie nichts, sondern ich öffne ihre Kreativität und ihre Möglichkeiten, wunderbare Musik zu erleben und zu gestalten.
 

Bibliographie

Helen Kiener (Nichte von Marie Jaëll): 
Marie Jaëll - Problèmes  d’ Esthetique et de Pédagogie musicales
Edition de l’ Arche, quatrième Ed. 1989

J. N. Forkel (geboren 1749):
Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke
Leipzig 1802; Neuausgabe bei Bärenreiter, Kassel

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